10. Februar 2013

Postnationales Europa oder Liberaler Internationalismus

26 Stunden nonstop haben die Regierungschefs der EU über den Finanzrahmen der nächsten Jahre verhandelt und sind sich am Ende einig geworden.⁽¹⁾ Richtig Freude kommt darüber nirgends auf, was eigentlich klein schlechtes Zeichen für einen Kompromiss ist. Dennoch sagt es viel über Intentionen der einzelnen Länder aus. Jedem ist schließlich das 'das Hemd näher als der Rock'; das eigene Volk, die eigene Nation, soll so gut wie möglich abschneiden. An Europa als Ganzes wird nur in zweiter Linie gedacht, auch wenn schon mal von einer Schicksalsgemeinschaft die Rede ist.⁽²⁾ Eine Beschreibung die europäische Befindlichkeiten auf den Punkt bringt. Europa soll zusammenfinden, um in der Welt als wirtschaftliche und politische Macht wahrgenommen zu werden. Hier sind aber ernste Zweifel angebracht, ob dies so gelingen kann, mehr noch, ob es überhaupt notwendig ist.

Einmal völlig unabhängig von den Verträgen, die regeln, wer denn nun gerade zur EU gehört, oder zur Eurozone, Europa wird in den einzelnen Ländern völlig unterschiedlich empfunden. Und dazu lohnt ein Blick an die Peripherie, was ist noch Europa und was ist nichteuropäisch? Schon diese Frage macht klar, dass Europa kein Gebilde mit festen Grenzen ist, sondern sich, je nach Thematik, immer wieder neu sortiert. Ethnische, wirtschaftliche, religiöse, sprachliche, geografische Trennungen, und viele mehr, lassen eine einheitliche Definition von Europa gar nicht zu. Die Europäische Union ist aus einem vom wirtschaftlichen Interessen geleiteten Bündnis (Montanunion) hervorgegangen und hat diesen Charakter, trotz aller Bemühungen, nie verloren.⁽³⁾ Und immer war klar: Nationalstaaten treffen bilaterale oder multilaterale Übereinkommen zum Nutzen ihrer jeweiligen Staaten. Eine europäische Identität oder ein europäischer Staat entstand nicht und alle Versuche derzeit einen solchen zu schaffen, wird auf größten Widerstand stoßen.

Die Frage die sich hier stellt: Sind die Nationalstaaten ein rückständiges Gebilde, etwas was es zu überwinden gilt in einer globalisierten Wirtschaft mit Personen-, Waren-, Geld- und Informationsströmen, die an keiner Grenze mehr halt machen? Um diese Frage zu beantworten, muss als erstes betrachtet werden, was der Nationalstaat für seine Bürger bedeutet, welche Funktion er ausfüllt und welche Erwartungen an ihn gestellt werden. Doch nicht einmal hier werden wir einheitliche Antworten erwarten können. Besonders deutlich wird diese Verschiedenheit auch hier bei der Sichtweise auf die Peripherie, auf diejenigen Länder die die Grenze zu Nichteuropa bilden. Ein Beispiel: Finnland. So schreibt Christian Henrich-Franke in einer Rezension in H-Soz-u-Kult:⁽⁴⁾
Finnische Identität und finnische Nationsbildungsprozesse waren stets auf die Inklusion in Europa bezogen, weil damit auch die Abgrenzung gegenüber Russland legitimiert werden konnte. Wenn man dabei betrachtet, welch vielschichtige politische, wirtschaftliche und/oder kulturelle ‚Europabilder‘ an der finnischen Peripherie konstruiert wurden, wird deutlich, wie schwierig Europa konzeptionell erfasst werden kann.
Jedes Land, jede Nation, hat ihre eigenen Nationsbildungsprozesse die immer auch identitätsstiftend sind und nicht von einer wie immer gearteten europäischen Identität abgelöst oder verdrängt oder auch nur überlagert werden können. Man findet in Europa zusammen, wenn es in Einzel- und Teilbereichen von Vorteil erscheint. Aus keinem anderen Grund. In der FAZ schlug daher Bruno S. Frey vor:⁽⁵⁾
Sinnvoller ist hingegen, zuerst die zu bewältigenden Probleme zu identifizieren und anschließend dafür geeignete politische Einheiten zu schaffen. Es wird hier somit vorgeschlagen, den heute üblichen Weg umzukehren: Die politischen Grenzen sollen sich endogen anpassen, damit Aufgaben möglichst effektiv gelöst werden können.
Freys Artikel ist mit »Weg mit den Nationalstaat« überschrieben, was insofern konsequent wäre, wenn Problemlösungsstrategien sich dort entwickeln wo es Probleme gibt, unabhängig von Grenzen und Nationalstaaten und auch nur dort zur Anwendung kommen. So sehr ich diesen Denkansatz schätze, dass dadurch die Nationalstaaten verschwinden, wird eine Illusion sein, im Gegenteil, es wird die Nationalstaaten stärken.

Warum aber soll sich Europa eine einheitliche Regierung geben, die Nationalstaaten an Bedeutung verlieren, zu Gunsten eines Staatsgebildes Europa. Die gängigen Erklärungen laufen meist darauf hinaus, dass dies notwendig wäre, um nicht in der Bedeutungslosigkeit gegenüber USA und China, eventuell auch anderen aufstrebenden Nationen, zu versinken. Mit anderen Worten, Druck von außen erzwingt eine Einigung. Dass dies dauerhaft funktioniert ist höchst unwahrscheinlich, wenn nicht zumindest nebenbei Identitätsbildende Prozesse ablaufen. Druck von außen, sei er wirtschaftlicher, sei er politischer Natur, schafft nur Allianzen für die Dauer der Bedrohung. Eine gemeinsame Identität entsteht nicht.

Auch Länder wie die USA oder China haben lange gebraucht um zu einer Nation zu werden. Und diese Einigungsprozesse sind auch selten unblutig abgelaufen. Shelby Foote meinte beispielsweise, dass man vorm Amerikanischen Bürgerkrieg von den Vereinigten Staaten sprach, danach wurden sie die Vereinigten Staaten genannt.⁽⁶⁾ Für China lassen sich ähnliche Beispiele finden.

Wie kommt man aber heraus aus dem Dilemma, einerseits gegen die wachsende Bedeutungslosigkeit im internationalen Maßstab ankämpfen, andererseits sich die Unmöglichkeit der Schaffung eines Gebildes Europa einzugestehen, welches mit den großen Playern mithalten könnte? Einen interessanten Beitrag dazu liefert Michael Lind in Novo-Argumente.⁽⁷⁾ Er geht nicht weiter auf Europa ein, sondern betrachtet die oftmals angenommene zwangsläufige Entwicklung hin zu einer Weltregierung. Vorstellungen, nach denen historischer Fortschritt sich auch dadurch zeigt, dass Zugehörigkeit zu einem Stamm, dann einer Nation, schließlich nur noch zur Menschheit ausdrückt, werden von ihm als Illusion beschrieben; postnationale Gesellschaften zwar vorstellbar sind, aber an der Lebenswirklichkeit scheitern werden müssen.
Liberale Internationalisten behaupten, dass alle Menschen unveräußerbare Rechte haben, die von Regierungen geschützt werden sollen. Während diese die Rechte schützenden Regierungen verschiedene Formen annehmen können, ist der Nationalstaat die größte Einheit, die in der Lage ist, eine effektive Regierung mit der Solidarität unter den Bürgern zu verbinden. Die Nation, der der Staat entspricht, kann – im Sinne von gemeinsamer Kultur und Sprache – grob definiert werden und sie kann sich nationalen Minderheiten gegenüber großzügig zeigen, die ihre Gebiete nutzen. Es gibt aber einen Punkt, an dem sprachliche und kulturelle Diversität das Minimum einer Gemeinschaft untergraben, das notwendig ist, um das Gefühl einer gemeinsamen Nationalität aufrecht zu erhalten. Eine globale Regierung wäre ein Turm zu Babel, dem nur wenige gern gehorchen und den nur wenige gern mit Steuergeldern ausstatten oder mit Militärdiensten unterstützen möchten.
Was hier als globale Regierung bezeichnet wird, trifft im kleinerem Maßstab auch auf eine Europäische Regierung zu und erklärt warum eine solche letztlich scheitern muss. Ein auf Kooperation angelegter liberaler Internationalismus würde den Weg aus dem oben beschriebenen Dilemma aufzeigen.
Diese Kooperation kann die Form von internationalem Recht, internationaler Schiedsgerichte und internationaler Agenturen annehmen oder aber auch die von militärischen Allianzen. International bedeutet allerdings nicht supranational. Länder können Befugnisse für verschiedene Ziele auf internationale Agenturen übertragen, aber solange diese Übertragungen zurückgenommen werden können, wird damit die Souveränität nicht preisgegeben.
Dieser Ansatz entspricht im Grunde auch den Vorstellungen Freys, dem ein wettbewerbliches Netz aus politischen Körperschaften vorschwebt, nur mit dem Unterschied, dass dem Nationalstaat entscheidende Aufgaben zukommen. Sowohl nach innen in Form von Solidarität seiner Bürger zueinander, als auch in der Aufgabe Allianzen zu schmieden die sich an zu bewältigenden Problemen orientieren.

Die 26 Stunden Nonstop-Verhandlungen wären nicht nötig gewesen, wenn sich die Nationen Europas auf Schiedsgerichte oder Agenturen einigen, die nach gemeinsamen Recht, nach gemeinsamen Statuten, entscheiden. Dabei müsste dies noch nicht einmal auf Europa begrenzt sein, sondern ganz im Sinne Linds, durch zu definierenden Normen eines internationalem Liberalismus für alle offen sein. Statt krampfhaft zu versuchen ein postnationales Europa mit eigener Identität zu schaffen, was so oder so nicht klappen wird, sollten kooperierende Nationalstaaten diese Aufgaben übernehmen, diejenigen die der einzelne Nationalstaat nur unzureichend lösen kann.

Links / Erläuterungen:

(1) „Von Donnerstagnachmittag an hatten die 27 Staats- und Regierungschefs nahezu nonstop über die Eckpunkte des neuen EU-Finanzrahmens verhandelt.“
[SpiegelOnline: EU-Etatkürzung: Erfolg der Haushaltsfalken]

(2) „An vielen Punkten ziehen wir an einem Strang, an anderen ist das nicht der Fall. Eines aber wird für Deutschland nicht verhandelbar sein: Die Europäische Union ist für uns weit mehr als ein Binnenmarkt, sie ist eine Friedens- und Schicksalsgemeinschaft.“
[Die Welt: Die EU ist eine Schicksalsgemeinschaft]

(3) „Sechs Jahrzehnte, damit ist der Zeitrahmen ab Beginn der Montanunion (Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl) genannt, die freilich auch nicht aus dem „Nichts“ entstanden ist, sondern auf dem Schuman-Plan aufbaute, der wiederum sehr klar französische Interessen vertrat.“
[Glitzerwasser: Europa, der Friedensnobelpreis und Lessings Bogen]

(4) „‚Europa‘ zählt zu den zentralen Themen der historischen Forschung, wenngleich die Vorstellungen und Bilder von Europa je nach Betrachtungsperspektive und Betrachtungszeitraum erheblich variieren. Wo die Grenzen von Europa liegen und was Europa eigentlich ausmacht, ist und bleibt umstritten.“
[Christian Henrich-Franke: Rezension zu: Bösch, Frank; Brill, Ariane; Greiner, Florian (Hrsg.): Europabilder im 20. Jahrhundert. Entstehung an der Peripherie. Göttingen 2012, in: H-Soz-u-Kult, 24.01.2013]

(5) „Werden EPE sukzessive eingeführt, wird das Gewicht des zentralistisch-bürokratischen Teils der Europäischen Union über die Zeit abnehmen und sich ein dynamisches, wettbewerbliches Netz aus politischen Körperschaften entwickeln. Eine sinnvolle europäische Politik sollte zuerst die zu lösenden Probleme identifizieren. Ausgehend davon, sollte sie die geeigneten politischen Einheiten diskutieren und sie auch ermöglichen. Die Initiative zu deren Gründung kann den Betroffenen überlassen bleiben - das Netzwerk darf nicht von oben oktroyiert werden, sondern soll sich von unten entwickeln können.“
[FAZ: Bruno S. Frey, Weg mit dem Nationalstaat]

(6) Dieses Beispiel brachte Foote in der Dokoserie »The Civil War (1990)«.
[Wikipedia: Shelby Foote]

(7) „Postnationale Liberale sagen uns, der Nationalstaat werde aussterben und verurteilen dann die Verteidiger der nationalen Souveränität dafür, dass sie den Beginn der dem Anspruch nach unausweichlichen Zukunft verzögern. Die Sonne wird morgen genau um 7.00 Uhr aufgehen, deswegen müssen wir ihr beim Aufgehen helfen und alle bekämpfen, die ihren Aufgang verhindern wollen.“
[Novo-Argumente: Michael Lind, Globalisierung: Wider den Kosmopolitismus]


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