30. März 2017

Veränderungen in der Provinz

Seit nun knapp neun Jahren wohne ich in einem rund 6000-Seelen-Ort südlich von Stuttgart. Kürzlich wurde ich dort das erste mal von der Polizei angehalten. Es war schon dunkel, bewölkt wars auch, kurz vorher hatte es geregnet. Im Auto saßen außer mir noch eine meiner Töchter (13) sowie meine Frau. Wir fuhren langsam durch ein paar Seitenstraßen und schauten nach Hausnummern. Die Tochter wollte unbedingt einen Job, also trägt sie nun zwei Mal die Woche Zeitschriften und Kataloge aus. Da gibt es zwar nicht viel Kohle dafür, aber das ist ihr egal. Sie wollte es unbedingt, also habe ich zugestimmt, solange die Schule nicht darunter leidet soll es mir recht sein. Nur meiner Frau gefiel es gar nicht, ein junges Mädchen abends allein durch den Ort streifen zu lassen machte ihr Angst. Und so habe ich mich bereit erklärt, die ersten paar Male der Tochter zu helfen und sie mit dem Auto chauffiert. Wahrscheinlich hat das mich mehr Sprit gekostet, als es meiner Tochter Kohle einbrachte. Doch das zählt nicht.

Der Polizeistreife bin dabei aufgefallen, worauf die mich anhielten und kontrollieren. Führerschein und Papiere wollten sie sehen. Schnell war klar, von mir wollten die eigentlich nichts. Als sie sahen wer da warum so auffällig unterwegs war, brachen sie die Kontrolle ab, ich hatte die Fahrzeugpapiere noch nicht mal heraus gekramt, und wünschten uns noch einen schönen Abend.

Was macht die Polizei eigentlich in solch ein Kaff? Hier gibt es nicht mal eine Wache, die nächste ist in Nürtingen. Doch ein paar Flüchtlingsunterkünfte sind auch hier, zu denen wurden sie schon ein paar Mal gerufen weil es dort Probleme gab, habe ich jedenfalls im Polizeibericht gelesen. Und ein paar Mal wurde auch eingebrochen in diesem Ort, stand da ebenfalls.

Vor neun Jahren, als wir hier her zogen, sah ich die ersten Jahre bestimmt kein Polizeiauto, höchstens mal auf der Hauptstraße, mit Blaulicht und Tatütata unterwegs irgendwohin, nur nicht zu einem Vorfall hier in dem Ort. „Gibts hier überhaupt keine Polizei?“ fragte mich damals meine Frau. Für sie, in den Philippinen aufgewachsen, erschien das beinah leichtsinnig. Doch nur ganz am Anfang, später war sie begeistert von dem „peaceful place,“ wenngleich ein wenig langweilig. Aber hier funktionierte ein friedliches Zusammenleben auch ohne Polizei. Das war vor nicht mal zehn Jahren.

Früher, ja ich muss früher sagen, obwohl nur ein paar wenige Jahre vergangen sind, fuhr ich schnell Mal mit dem 50iger Roller zum Bäcker, Metzger, zum ALDI und zum REWE oder zur Post, gibt es alles hier im Ort. Wenn dann auch noch das Wetter mitspielte, verzichtete ich auf den Helm und ließ meine langen Haare im Fahrtwind flattern. Das hat hier keinen richtig interessiert, nur manchmal drehte sich vereinzelt einer nach mir um, meist mit einem Lächeln im Gesicht. Für mich waren diese kurzen Besorgungsfahrten auch so was wie ein Statement an meine Mitmenschen hier, wie genau ich es denn mit der Befolgung von Regeln halte. Ich weiß, es klingt ein wenig lächerlich, aber für mich waren diese Mopedfahrten im Ort, ohne Helm, immer auch mit einem klitzekleinen Gefühl von Freiheit verbunden. Eben nicht alle Kommandos oder Regeln immer befolgen zu müssen, nur weil es ein Gesetz darüber gibt.

Auf den ersten Blick hat sich nicht viel geändert, hier, doch irgendwie ist alles anders geworden. Nun kommt der Sommer und ich überlege mir gerade, mir wieder so einen kleinen Motorroller zuzulegen; mit dem kann ich schnell zum Einkaufen fahren, über die Feldwege düsen, oder runter nach Nürtingen, wenn es da was zu erledigen gibt. Schnell mischen sich Bedenken in meinen Wunsch: Wird die Polizei im Sommer immer noch so präsent im Ort sein, Streifen in den Nebenstraßen fahren, wie das derzeit oft der Fall ist? Ich müsste damit rechnen ständig Strafzettel zu bekommen, oder wäre gezwungen auch im Sommer einen Motorradhelm zu tragen.

Es ist klar, warum die Polizei heute in diesem meinem Wohnort nun häufiger zu sehen ist als früher, Stichwort: Wohnungseinbrüche und Flüchtlingsunterkünfte. Und den meisten Einwohnern hier wird es gefallen, sehen sie ab und an die Gesetzeshüter patrouillieren. Ein Bedürfnis nach Sicherheit wird befriedigt. Ob es wirklich was bringt, diesbezüglich, will ich gar nicht beurteilen. Auch ich habe ja im Prinzip nichts dagegen, nur, ein klitzekleines Stück Freiheit ist für mich verloren gegangen.

Nein, ich werde mir keinen neuen Motorroller kaufen, mit jedem mal wenn ich mir den Helm auf den Kopf setze, würde ich daran erinnert was sich verändert hat. Das werde ich mir nicht antun.

Ist nur eine kleine Geschichte aus der Provinz. Der Städter, der Großstädter sowieso, wird mit den Schulter zucken und sagen: „Dem seine Probleme hätte ich gerne!“ Er wird an die NoGo-Areas denken und meine Beschwerde über zu viel Polizei im Kaff belustigend finden. Aber dieser Unterschied ist es, beispielsweise, warum ich nicht (mehr) in der Stadt lebe. Nur wenn sich die Provinz nun immer mehr den Städten angleicht, wo kann ich dann noch hingehen um sein zu dürfen wie ich bin. Die Rückzugsräume werden immer weniger.

7 Kommentare :

  1. Brain cap statt Sturzhelm für den Sommer, ist nicht verboten und nicht nicht so warm :).

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  2. Vielen Dank, so ähnlich denke ich auch.
    Die Freiheit verschwindet heimlich, still und leise. Gerade auf dem Land. Und wobei ich mich auch schon ertappt habe: Nachdenken, ob man dieses oder jenes überhaupt noch machen darf/soll. Die Schranke im Kopf.
    Dann: Vorauseilender Gehorsam. Wird auch auf den Dörfern immer mehr, meistens durch "Nei'gschmeggde" aus der Stadt/Großstadt. Zum Helm auf dem Mofa: An Ihrer Stelle würde ich ohne fahren, die Polizei auf dem Land ist noch vernünftig. Die sind froh, wenn sie mit normalen Menschen zu tun haben.
    Die Gründe, weshalb wir auf dem Land leben, waren unter anderm auch, dass unsere Kinder noch auf der Straße spielen können, mit dem Fahrrad durchs Dorf zu radeln oder über die Felder, ohne dass man sich darüber Sorgen machen muss, die Kinder würden durch Raser umgefahren oder müssen zwischen Autos hindurch die Straßenseite wechseln usw. Geht bei uns noch, allerdings sind in der Nachbarschaft Bedenkenträger, deren Kinder ohne Helm beinahe garnicht mehr aus dem Haus gehen. Das überträgt sich teilweise auf die anderen. Da wird bereits zum Rollerfahren der Helm aufgesetzt, ein kleineres Kind wurde bereits mit Knie- und Ellenbogenschutz auf dem Roller gesehen. Sinnvoll?
    Veränderung gibt es immer, ein völlig normaler Prozess. Kommt darauf an, was wir daraus machen und wie weit wir mitmachen.
    In diesem Sinne: Ein bißchen Mut und der Fahrtwind weht weiterhin durchs offene Haar!

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  3. Meine Frau ist auch eine Filipina. Wir leben allerdings auf den Philippinen, auf dem Land; hier haben wir auch noch nie Polizei gesehen. Es ist sehr friedlich hier.

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    1. Habe auch seit Jahren eine liebe Filipina, werde bald auch auf einer der vielen Inseln leben.......

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  4. Und ich hatte mir dem Gedanken gespielt, auf`s Land zu ziehen ...
    Jetzt muss ich halt gedanklich weiter spielen und mir eine Hütte im tiefen Wald visualisieren - vielleicht ist das ja eine Möglichkeit.

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    1. wie weit du auch in deutschland ghen wirst, es ist niemals weit genug. ich bin weiter und weiter ausgewichen und jetzt lebe ich in portugal, weil deutschland einfach zu eng ist

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  5. Aus einem Leserbrief zu diesem Artikel:

    „... und bekamen Post aus der Schule, dass die Kinder doch bitte zu bringen und abzuholen seien, da fuer die Sicherheit der Kinder auf dem nach Hause Weg nicht mehr garantiert werden kann.“

    Hier geht es um eine jüdische Familie. Fast möchte ich mich schämen für meine Befindlichkeiten bezüglich des Motorradhelmes.

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