6. April 2015

Sind so kleine Hände

Vielleicht fragt sich der eine oder andere Leser, wie es denn nach dem »politisierten Osterstrauß« weiter gegangen ist, bislang ist ja nur berichtet worden, dass wir, meine damalige Frau und ich, einen Ausreiseantrag stellten. Eigentlich ist dies ja ein Ding, was Abertausende getan haben, und man fragt sich als Schreiber dieser Zeilen schon, ob es überhaupt sinnvoll ist darüber zu berichten, vor allem wenn das ganze Prozedere für uns so glimpflich abgegangen ist. Kein Knast hatte es für uns zu Folge, die Kinder wurden uns nicht weg genommen und die Drangsalierungen deswegen waren in unserem täglichen Leben kaum spürbar. Allerdings, war ich als Handwerker auch nicht in einer beruflichen Position, die groß Möglichkeiten zur Schikane bot. Aus meinen Ausbildungsbetrieb, ein staatliches großes Wohnungsbaukombinat, deren Hauptaufgabe es war Arbeiterwohnregale, so nannten wir die Plattenbauten, in die Pampa zu stellen, hatte ich mich recht bald verabschiedet. Wenn ich mich heute daran erinnere, denke ich vor allem an Schlamm und Gummistiefel. Doch den Betrieb hatte ich ja verlassen und bin in einer kleiner Privatfirma untergekommen. Die gab es noch im Handwerk, nur gab es diesbezüglich ein Limit von einem Dutzend Mitarbeitern. Soviel waren wir aber gar nicht. Der Verdienst dort war geringer, doch ich hatte meine Ruhe vor Parteifunktionären oder anderen entsprechenden Typen, die einem mal schnell zum Gespräch nach dem Motto »wir sind doch jetzt unter uns« verwickelt hätten.

Bevor ich in dieser kleinen Privatfirma landete, war das freilich noch anders. Schon während der Lehre, dort meinte man mir androhen zu müssen, dass mir wegen meiner Wehrdienstverweigerung, der Lehrvertrag gekündigt werden müsse, war mir klar, dass ich da weg muss. Vormilitärische Ausbildung gehörte ja zum Vertrag, und wir Stifte wurden in GST-Klamotten, oder so, gesteckt und wurden ein oder zwei Wochen jedes Jahr kaserniert, um die üblichen militärischen Verhaltensweisen zu erlernen. Jetzt wenn ich versuche mich zu erinnern, fällt mir auf, dass es eine ganze Reihe von Leuten gab, aus dem Betrieb, die auf einmal in unserem Lager auftauchten, in Uniform wie wir, und irgendwelche Funktionen inne hatten. Der eine machte eine Schulung, in der wir lernen sollten wie man mit verbunden Augen eine Kalaschnikow auseinander und wieder zusammen baut. Ein anderer war fürs Exerzieren zuständig, der nächste für den Politunterricht. Ich kann mich nicht daran erinnern jemals einen regulären Angehörigen der NVA gesehen zu haben. Offensichtlich gehörten alle unsere Ausbilder zu den Betriebskampfgruppen.

Also machte ich diese Ausbildung mit, allerdings mit der Einschränkung, dass ich mich weigerte eine Waffe anzufassen und erklärte dem verdutzen Hilfsspieß, das mir dieses Recht zustehen würde, Lehrvertrag hin oder her. Zur Orientierung, zu diesem Zeitpunkt befand ich mich im zarten Alter von siebzehn Jahren. Doch nach anfänglichem Geschrei, dümmliche Einschüchterungsversuche, gab man klein bei und steckte mich in die Verpflegungsgruppe und wollte den Vorgang offensichtlich nicht an die große Glocke hängen. Und dort tat ich dann das was Jungs in diesem Alter gerne tun: Rauchen, Blödsinn anstellen und mit den Mädels rum machen.

Wahrscheinlich ist den Ausbildern zu Ohren gekommen, dass es sich bei mir um einen notorischen Querulanten handelt, denn schon zu Beginn der Lehre, mit 16, wurde uns Stiften die Mitgliedschaft in der Deutsch-Sowjetischen-Freundschaft, keiner wusste für was eigentlich dieser Verein da ist, mit Nachdruck nahe gelegt. „Meine Freundschaft zur Sowjetunion soll ich also bezahlen, und meine Freundschaft zu Amerika bekomme ich umsonst?" fragte ich spontan den Anwerber, der niemand anderes als mein Lehrmeister war. Ich wurde nicht noch mal danach gefragt, ob ich diesem Verein beitreten möchte. Die meisten anderen haben sich gefügt, und ich habe sie verachtet deswegen.

Von Zumutungen dieser Art hatte ich genug, schon bevor wir ernsthaft über einen Ausreiseantrag diskutierten, und so wechselte ich in diese Privatfirma, gerade mal ein Jahr nach Beendigung der Lehre. Heute, im Nachhinein, bin ich ein wenig froh, dass ich diesen Weg so gehen konnte, ohne mich noch mehr zu verbiegen, als ich es notgedrungen tat. Wären meine Schulnoten gut genug fürs Gymnasium gewesen, wer weiß was ich hätte dort ertragen müssen. Das schlimmste für mich wäre Anpassung gewesen. Ein Liedchen von Bettina Wegner hatte ich immer Ohr, es auf einem Tape aufgenommen, wahrscheinlich vom Radiosender RIAS den man per UKW empfangen konnte, und bekam immer Gänsehaut wenn ich »Kinder« anhörte. Im letzten Vers heißt es: „Menschen ohne Rückgrat ham wir schon zuviel“. Das wusste ich, ich erlebte und sah dies tagtäglich. Dieser Song ist zwar eigentlich eine fürchterliche Schnulze, doch mir ging er unter die Haut. Damals sowieso, und zum Teil heute noch, weil er Erinnerungen in Form von erlebten Emotionen wach ruft. Ohnmacht und das Gefühl ausgeliefert zu sein, kehrt zurück und schnürt mir den Atem ab. Auch Kafkas »Prozess« war mir immer eine Beschreibung der Gesellschaft DDR, mit den entsprechenden emotionalen Folgen.

Die Entscheidung, in diese Privatfirma zu wechseln, erwies sich als Glücksgriff. Erstmal fiel etwas von diesem Unbehagen von mir ab, dass mich vorher immer begleitete. Schule-Lehre-Betrieb erlebte ich als Orte der Verrücktheit und Anmaßung. Zum ersten Male spürte ich einen kleinen Hauch von Freiheit und es fanden sich Menschen unter den Kollegen, welche die sich auch nicht verbiegen lassen wollten. Ein ehemaliger Lehrer war dabei, er hatte sich für den ausgebürgerten Liedermacher Wolf Biermann eingesetzt, ist verhaftet worden, saß einige Zeit ein und durfte anschließend kein Lehrer mehr sein. Nun war er sozusagen Hilfsarbeiter auf dem Bau und mein Kollege. Oder ein anderer Handwerksmeister, der hatte seine kleine Firma verkauft, einen Ausreiseantrag gestellt, und wurde nun ebenfalls ein Kollege und Freund, nicht weil er die Arbeit unbedingt gebraucht hätte, sondern weil er annahm, dass wenn er keiner Berufstätigkeit nachgehe, er dann wegen sogenannten »asozialen Verhalten« in den Knast wandern könnte. Dieses »asozialen Verhalten (§ 249 StGB der DDR)« war ein Straftatbestand und sehr beliebt in der Anwendung, weil man politisch unliebsamen Personen mit einer unpolitischen Begründung mal richtig eins reinwürgen konnte.

Ob diese Beschreibung auch auf andere kleine Privatbetriebe zutrifft, kann ich nicht beurteilen, vielleicht war diese ein Sonderfall. Doch wer mit den Verhältnissen in den großen durchorganisierten Betrieben, den Unis und Schulen, dort wo die Partei das Sagen hatte, nicht klar kam, musste zwangsläufig in solchen Klitschen oder in der Kirche landen. Das Ventil in den Westen gab es noch nicht, wie in den späten Achtziger Jahren, als dann die Ausreiseanträge etwas großzügiger bewilligt wurden. Jedenfalls im südwestlichen Sachsen.

Zu den beiden, dem Ex-Lehrer und dem Handwerksmeister, entwickelte ich recht schnell Vertrauen, ein ungewöhnlicher Vorgang in der DDR, deren Gesellschaft von viel Misstrauen gegenüber Anderen geprägt war. Wir sprachen und diskutierten viel, auch nicht wenig über Bücher. Als ich den Lehrer kennenlernte, hatte ich gerade Stefan Heyms »Der König David Bericht« gelesen, es lag bei meinen Sachen, neben dem Pausenbrot, und der Ex-Lehrer griff es sich, hielt es hoch und fragte herausfordernd: „Und, was hast du hier rausgelesen“? Da wusste ich noch nicht ob ich ihm trauen konnte, und eierte deshalb in meiner Antwort etwas herum, weshalb er mir mit einem Grinsen im Gesicht zu verstehen gab, dass dieses Buch eine Analogie auf die DDR sei. Natürlich hatte ich es so verstanden, traute mir nur noch nicht ihm das zu sagen. Doch dieses Misstrauen verschwand schnell. Heute kann ich sagen, dass es der erste Lehrer in meinem Leben war, zu dem ich wirkliches Vertrauen gewonnen hatte, der allerdings einer war, der als Hilfsarbeiter auf dem Bau arbeitete.

Er war es auch, der mir ins Gewissen redete, die DDR nicht zu verlassen. „Was soll denn aus dem Land werden wenn alle Menschen die so sind wie du hier abhauen?“ fragte er mich oft, und ergänzte resignierend: „Dann sind nur noch die Mitläufer und Angepassten da!“ Ja, der Ex-Lehrer liebte seine Heimat, ich die meine nicht. Genau genommen wurde mir der Heimatbegriff ordentlich vergällt, denn alles was hätte Heimat sein können, wurde in meinen Augen ideologisiert. Dies ging so weit, dass solche Brauchtümer wie das Schnitzen von Weihnachtspyramiden oder Nussknackern in den Kontext einer fortschrittlichen sozialistischen Ordnung gesetzt wurde. In der Schule wurde uns beispielsweise erzählt, dass diese Tradition aus der Not der Bergarbeiter im Erzgebirge entstanden sei, was vielleicht stimmt, dies aber heute als Erinnerung und Mahnmal an eine vergangene und überwundene kapitalistische Gesellschaftsordnung zu sehen sei. Hier haben wir es wieder, diese Umdeutung und Kontextuierung von Tradition in eine neue Ideologie, etwas was ich nicht nur im Rückblick auf den real existierenden Sozialismus entdecke, sondern bei Ideologen jeglicher Richtung. Auch hier und heute in diesem Land. Stichworte: Europa und Nachhaltigkeit.

Wie ging es nun aber weiter mit unseren Ausreiseantrag. Nach der ersten Vorladung aufs Ministerium des Inneren der Kreisstadt Glauchau, auf dem der Antrag mit der Begründung zurückgewiesen wurde, dass es keine gesetzliche Grundlage dafür in der DDR gäbe, er deshalb nicht bearbeitet werden könne, war mein erster Weg in die örtliche Bibliothek. Diese befand sich im Schloss Forderglauchau und dort war ich Stammleser seit frühesten Kindertagen. Sie war der Ort in dem meine Träume und Sehnsüchte Flügel bekamen und gleichzeitig Realität wurden. Die Bücher konnte ich ja in die Hand nehmen, die Geschichten, die Romane und Erzählungen wurden Realität, die reale Welt außerhalb zum Traum, oft zum Albtraum.

In dieser Bibliothek wurde ich nun auch fündig, eine mehrbändige Ausgabe mit dem Namen »Völkerrecht«, wenn ich mich richtig erinnere, fiel mir in die Augen. Ich hatte nicht danach gesucht, wahrscheinlich war es falsch einsortiert worden, unter Geschichte möglicherweise, ich kann mich nicht mehr genau daran erinnern. In den Buchhandlungen und Antiquariaten, die ich ja auch ständig aufsuchte, ist mir dieses Werk nie aufgefallen, auch Vergleichbares nicht. Eigentlich wundert es mich bis heute, warum diese Bände dort zur freien Ausleihe zur Verfügung standen. Kurz und gut, ich fand darin fast alles was mein Verstand begehrte. Die UNO-Charta, der Grundlagenvertrag mit der BRD, die Schlussakte von Helsinki, um nur die wichtigsten zu nennen. Alles mit den Angaben wo, was, von wem, wann unterzeichnet wurde. Per Hand schrieb ich mir diese für mich relevanten Verträge ab. Schreibmaschine hatte ich keine, auch keine Möglichkeit irgendwo etwas zu kopieren. Abphotographieren wäre vielleicht noch gegangen, doch das wollte ich nicht, sondern ich schrieb Wort für Wort, Zeile für Zeile alles ab, und genoss diese Arbeit. Ein Gefühl, eigentlich nur als Vorahnung, der Freiheit erfasste mich.

Die Ausreiseantrag-Serie:

#1Ein politisierter Osterstrauß
#2Sind so kleine Hände
#3Briefe. Und ein kalter Wind
#4Plattenbauten und eine rote Flagge
#5Prag, die Sächsische Schweiz und Amerika
#6Kindesentführung und ein privates Begrüßungsgeld




Diese Serie ist ebenfalls als Buch erschienen, ergänzt mit einigen Begebenheiten rund um das, was vorher geschah.

Paperback
120 Seiten
ISBN-13: 9783752812558
7,50 €
E-Book
ISBN-13: 9783752837049
4,99 €






5 Kommentare :

  1. Guter Bericht, wirklich sehr interessant. Für mich, als im Westen aufgewachsener, klingt das so, als ob die DDR 2 Ticken schlimmer war als die BRD. Aber Grundsätzlich unterscheiden tun sich diese Systeme nicht.
    Mir scheint aber, dass bei einer Fortführung des aktuellen Trends wir bald wieder diese Verhältnisse wie in der DDR haben werden. Die Drangsalierung des Staates wird ganz langsam immer schlimmer. Die machen das so langsam, dass die meisten Leute das nicht merken.

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  2. "...Aber Grundsätzlich unterscheiden tun sich diese Systeme nicht."

    ...doch, sogar SEHR grundsätzlich.

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    1. Aus meiner Sicht unterscheiden sie sich nicht Grundsätzlich, sondern nur im Grad der Ausprägung. Im Sozialismus haben Sie 100% Staatsquote und so gut wie keine Freiheit mehr. Man ist also 100% Sklave des Systems.
      Bei uns haben Sie 50% Staatsquote und 250.000 Vorschriften. Damit haben wir halben Sozialismus und man ist halber Sklave des Systems.

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    2. @ Anonym 7. April 2015 um 19:05

      Doch, es sind sehr grundsätzliche Unterschiede. Sklave eines System ist man nur, wenn man sich diesem erstens nicht entziehen kann, und was viel wichtiger ist, ein Sklave hat nicht die Möglichkeit eine politische Forderung zu stellen, vielleicht in Form der Gründung eines Vereins oder einer Partei, um gegen die aus seiner Sicht falschen Entwicklungen Protest zu ergreifen.

      Die Gleichsetzung von BRD und DDR verkennt nicht nur die Strukturen und Ideologien die in den jeweiligen Ländern vorherrschen, sondern sie verharmlost die Gewaltherrschaft DDR.

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  3. Sehr guter Artikel. Ich erlebte die Wende zwar mit 17 Jahren, erlebte aber das beschriebene ähnlich. Nur widersetzte ich mich nicht ganz so fehement. Zur GST ging ich z. B. auch nicht, aber einen Ausreiseantrag stellte ich nicht. Machte dafür aber die Erfahrungen der Wende, also der ersten Demos, dem eigenen drucken eines Flugblattes und die enttäuschten Erwartungen nach der Wende, als sich auch auf Grund der Fehler des viel zu hohen 1:2 Umtauschkurses und der vel zu schnell vollzogenen Vereinigung, mit dem folgenden schweren Strukturwandel sehr schnell herausstellte, dass man im Osten nicht mehr gebraucht wurde.
    Trtzdem alles im allen eine sehr gute Lebenserfahrung. Man kann etwas großartiges friedlich erreichen, man muss aber weiteres sehr gut diskutieren, überdenken und wenn möglich in kleinen Schritten praktizieren, zudem kann man auch anderswo Fuß fassen.
    Was aber augenscheinlich ist, dass ist die Ähnlichkeit der jetzigen Propanda zu der in der DDR. Leicht zu enttarnen, aber die Masse schluckt es, jetzt wie damals.

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