12. August 2014

König Ubu, Pataphysik und die Klimawissenschaft

Kürzlich empfahl der Perlentaucher eine neu erschienene Biographie über Alfred Jarry⁽¹⁾. Schon diese Meldung zauberte unmittelbar ein Lächeln in mein Gesicht, so manche Anekdote über diesen Schriftsteller fiel mir ein,⁽²⁾ alle das Bild Jarrys als Bürgerschreck unterstreichend. König Ubu,⁽³⁾ wohl sein bekanntestes und zu seinen Lebzeiten nur ein mal aufgeführtes Werk, war einige Jahre mein treuer Begleiter in Form eines Reclambuches. Wurde ich hin und wieder gefragt, welches Buch dies denn sei, welches ich ständig mit mir herumtrage, dann nutze ich die Gelegenheit und las einige Sätze daraus vor. Danach war für die Zuhörer klar: Der Quentin hat einen an der Waffel, wer so ein Zeug ließt kann nicht normal sein. Diese Reaktion war natürlich genau einkalkuliert, denn damit verschaffte ich mir eine gewisse Narrenfreiheit als Kompensation für die existierende Unfreiheit auf dem, in meinen Augen, nicht minder verrückten Narrenschiff DDR. Ich hatte Spaß an der Konfrontation, so wie das eben Teenager aller Zeiten haben. Doch dabei blieb es nicht, sondern auch die Erkenntnis , dass auf dem ersten Blick völlig verrückt erscheinende Geschichten einen speziellen Wahrheitsbezug haben und wirklichkeitserklärend werden. Die existierende sozialistische Gesellschaft erschien mir völlig verrückt und war dennoch real. Mit logischen Herleitungen, dass wurde mir schon recht früh klar, wird man die Welt nicht erklären können. Was ist real, was ist imaginär, was ist richtig, was ist falsch - überall sind die Grenzen fließend.

Nun gibt es aber ein Wissenschaftskonzept welches sich ’Pataphysik⁽⁴⁾ nennt und ebenfalls auf Alfred Jarry zurück geht, in welchem die Unterschiede zwischen real und imaginär, zwischen richtig und falsch, verschwinden. Auch wenn es in Wikipedia als absurdistisches Wissenschaftskonzept bezeichnet wird, so steckt doch ein geniales Erklärungsmodell dahinter und die ’Pataphysiker meinen, dass die ’Pataphysik zur Metaphysik steht, so wie die Metaphysik zur Physik. Sie wird auch die »Wissenschaft von den imaginären Lösungen« bezeichnet. Letztlich ist alles imaginär, die Probleme und die Lösungen. In einer Sendung des Schweizer Fernsehens aus der Reihe »Sternstunden Philosophie«⁽⁵⁾ erklärte Klaus Ferentschik⁽⁶⁾, Mitglied des Collège de 'Pataphysique⁽⁷⁾ in Paris und Regent für spezielle Dämonologie, die Grundprinzipien so:
Die Pataphysik geht davon aus, dass auch die Dinge die es nicht gibt wahr sind, zumal sie in uns existieren, zumal wir daran denken, zumal wir uns in unserer Vorstellung damit beschäftigen. Dann existieren die Dinge und sind genau so real, wie die angeblich realen Fakten.
[ . . . ]
Pataphysik inkludiert alles, alles Vorstellbare, alles Unvorstellbare, alles Mögliche, alles Unmögliche. Für sie ist alles eins in einer grenzenlosen Welt pataphysischer Betrachtungen. Die das Mögliche und das Vorstellbare dem Unmöglichen und dem Unvorstellbaren gleich setzt kann dann auch nicht mehr als wahr und oder falsch angenommen werden, sondern nur noch als gegeben und existent.
Das hört sich erst mal tatsächlich nach einem absurden Wissenschaftskonzept an, aber nur auf dem ersten Blick, denn in Wirklichkeit wissen wir über so viele Dinge nichts, und sie sind dennoch real weil sie in der Vorstellung existieren. „Das sozial Imaginäre ist das Fundament, der Ursprung all dessen, dem individuell oder kollektiv »Wert« zugesprochen wird“, meint Eva Horn unter Bezugnahme auf Cornelius Castoriadis⁽⁸⁾. Dem Imaginären wird ein Wert zugesprochen, damit ist es nicht nur im pataphysischen Sinne real. Doch nicht nur das »sozial Imaginäre«, sondern alle Imagination ist real und gegeben weil es einen materiellen oder ideellen Wert darstellt, was wiederum das Fundament unseres Handelns und Denkens ist. Wie Vorstellungskraft auf Gesellschaften wie auf Individuen wirken können, wird insbesondere deutlich wenn es um Zukunftsbilder geht, dessen Rahmen derzeit hauptsächlich aus der Werkstatt Apokalypse kommen.

Klimakatastrophe oder Vergreisung und Überbevölkerung, aus Zahlen (Statistiken, Messwerten) werden Bilder gemacht. Was daran wahr oder falsch ist, interessiert nicht, die Imaginationen sind vorhanden und damit ist es real. Insbesondere in der Klimatologie ist alles imaginär. Probleme entstehen nur als Phantasiegebilde, weil die Zahlen selbst, auf die sich Klimatologen stützen, gar nichts aussagen. Soundsoviele Zehntel Grad Celsius ist es auf der Welt seit hundert Jahren wärmer geworden. Gemerkt hat das keiner, nur durch die Imagination wurde der Klimawandel real. Da es aber tatsächlich niemand ohne diese Zahleninterpretationen gemerkt hätte, dass es ein paar Zentelgrad wärmer geworden ist, ist die Vorstellung dessen was es für uns bedeutet, ein imaginäres Problem. Genau dafür ist die Pataphysik zuständig, für Imaginationen, so verrückt sie auch erscheinen, sie werden wirklichkeitserklärend und der Unterschied zwischen real, und nicht real, löst sich auf. Es wird als gegeben und existent angenommen.

Wir haben also ein imaginäres Problem, den Klimawaandel, welchem wir gemäß der Pataphysik mit imaginären Lösungen begegnen können. Hier verschwimmt nun ein wenig die Begrifflichkeit, denn wir unternehmen ja tatsächlich reale Anstrengungen um die imaginäre Klimakatastrophe zu vermeiden. Auch hier auf dem ersten Blick nur, denn in Wirklichkeit sind die realen Anstrengungen nur imaginäre. Dazu müssen wir uns wieder auf die Ebene der nackten Zahlen begeben, ohne jede Imagination. Und diese Zahlen sagen aus, dass nichts passiert ist. Das CO₂ steigt munter weiter, die Energiewende, oder andere Anstrengungen, konnte an den Zahlen nichts ändern.

Dadurch aber, dass die Temperatur der Erde derzeit nicht mehr steigt, auch das sehen wir nur in den Messwerten und Statistiken, fühlen können wir es nicht, muss es eine andere Erklärung geben warum die Energiewende gewirkt hat. Die realen Anstrengungen haben offenbar pataphysisch gewirkt, gleichsam direkt aufs Klima, ohne sich erst lange mit dem Kohlendioxid aufzuhalten. In der Pataphysik ist das kein Widerspruch, da sowieso alles imaginär ist, das Mögliche genauso wie das Unmögliche.

Damit kommen wir zum nächsten pataphysischen Phänomen, der Auflösung zwischen wahr und falsch. „Den [Unterschied] gibt es nicht mehr, denn in ihrer Vorstellung können sie ja ständig hin und her hüpfen“, meint Klaus Ferentschik. Genau das machen die Klimawissenschaftler ja auch, welche fordern, wir müssen reale Handlungen wie die Reduzierung des CO₂ mit Hilfe der Energiewende vornehmen, welches dann zwar den CO₂ Ausstoß erhöht, allerdings trotzdem das Klima schützt. Das ist Pataphysik in Reinkultur, ein ständiges hin und her hüpfen zwischen Real und Imagination.

In der Anmoderation zur »Sternstunden Sendung« des Schweizer Fernsehens heißt es: „Die ganze Welt ist ohnehin und grundsätzlich pataphysisch, ob wir es nun wahr haben wollen oder nicht.“ Wahrscheinlich wissen die meisten Klimatologen und Klimaschützer gar nicht in welch höhere Sphären der Pataphysik sie bereits vorgedrungen sind und es wäre dem Collège de ’Pataphysique anzuraten, zu den bisherigen Lehrstühlen:
Generelle ’Pataphysik und Dialektik der Unnützen Wissenschaften
Angewandte ’Pataphysik. Blablabla und Matäologie
Geschichte der ’Pataphysik und Exegese
Katachemie und ’Pataphysik der Unexakten Wissenschaften (Mistizin, Geschichte, Sozial- und Kulinarwissenschaften usw.), Aufbaustudiengang Magirosophie
Mythographie der Exakten Wissenschaften und der Absurden Wissenschaften, Aufbaustudiengang Alogonomie
Militärische und strategische Eristik
Photosophistik
Kinematographologie und Onirokritik
Erotik und Pornosophie
Krokodilologie
Pompagogie, Pomponierismus und Zozologie
noch einen Studiengang für spezielle Energiewenden, Aufbaustudiengang angewandte Klimatologie, anzubieten. In der Zwischenzeit können wir den Klimatologen und Energiewendentologen noch die Worte eines der großen Gelehrten der Pataphysik, Marcel Duchamp, ans Herz legen:
„Es gibt keine Lösung, weil es kein Problem gibt“
Ferentschik hat Duchamp anders herum zitiert: „Es gibt keine Probleme, weil es keine Lösungen gibt“. Aus pataphysischer Sicht ist beides richtig, weil sowohl die Probleme als auch die Lösungen imaginär sind: Klimawandel und Klimaschutz. Klimatologie ist somit eindeutig ein Teilgebiet der Pataphysik, irgendwo einzuordnen bei den Unexakten Wissenschaften (Mistizin, Geschichte, Sozial- und Kulinarwissenschaften usw.).

König Ubu half mir den real existierenden Sozialismus zu verstehen, wenngleich ich mich mit Hilfe der Pataphysik über ihn lustig machte; in dem ich mich zwar scheinbar zum Narren machte, dabei aber der Gesellschaft den Spiegel vor hielt. Erst in diesem Spiegel wurde klar, dass alles Imagination ist, aus dieser Imagination aber reale Probleme entstanden, die wiederum mit imaginären Lösungen bedacht wurden.

Die heutigen Imaginationen werden real durch Begriffe wie Klimawandel, Klimaschutz, Klimawissenschaft und Nachhaltigkeit. Institutionen werden gegründet die mit imaginären Lösungen imaginäre Probleme beseitigen wollen. Was wirklich wahr ist, wird irrelevant. Noch mal Eva Horn⁽⁹⁾:
Dieses weite und disparate Feld von Fiktionen über das Klima zu analysieren bedeutet nicht, sie auf ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen, sondern zu zeigen, wie die Wahrheit »zustande kommt«, die sie mit großer Überzeugungskraft anschaulich machen wollen. Nur so lassen sich die unausgesprochenen Programme, die heimlichen Implikationen und Handlungsanweisungen entziffern, die in den unterschiedlichen Klimaimaginationen bearbeitet werden.
Hier möchte ich noch in einem Punkt widersprechen, es sind keine heimlichen Implikationen die solche pataphysische Wissenschaften wie die Klimatologie bestimmen, es sind unheimliche. Doch so oder so, nichts ist real, alles ist Fiktion oder Imagination. Und nur in diesen Bereichen wirken auch die Handlungsanweisungen, denn im realen Leben gibt es keine Lösungen, weil es keine Probleme gibt. Oder anders herum.

Verweise/Anmerkungen:

(1) Alastair Brotchie: Alfred Jarry
Ein pataphysisches Leben
Aus dem Englischen und Französischen von Yvonne Badal
Piet Meyer Verlag, Wien 2014
552 Seiten, gebunden, € 44,70
Erscheint am 13. August 2014
[Perlentaucher Vorgeblättert: Alastair Brotchie: Alfred Jarry]
  
(2) Apollinaire: Alles in der Wohnung von Jarry war zu klein: das Bett, die Bibliothek, sogar die an den Wänden hängenden Bilder. Nur auf dem Kamin stand ein steinerner Phallus aus Japan und als ihn einmal eine Dame schockiert entdeckte, meinte der Bewohner auf ihre Frage, ob dies ein Gipsabdruck sei, nur kurz: "Nein, eine Verkleinerung."
[König Ubu, ein Hörspiel nach Alfred Jarry produziert von Radio T ]
[Wikipedia.de: Alfred Jarry]
[physiologus.de: Verkleinerung]
  
(3) Das 1896 uraufgeführte Drama wurde von Surrealisten und Dadaisten gefeiert und in zahlreiche Sprachen übersetzt. Später identifizierte sich Jarry immer mehr mit seiner Figur; gegen Ende seines Lebens signierte er sogar mit Ubu.
[Wikipedia: König Ubu]
  
(4) Jarrys ’Pataphysik blieb bis zur Gründung des Collège de ’Pataphysique 1948 eine weitgehend nur literarische Idee, die Künstler und Schriftsteller inspirierte. Die später berühmt gewordene ’pataphysische Vereinigung, gegründet zu Alfred Jarrys Ehren in der Librairie des Amis des Livres in Paris, hatte auf die Weiterentwicklung der ’Pataphysik wesentlichen Einfluss. Zu den Gründern zählten Raymond Queneau und Boris Vian. Spätere prominente Mitglieder waren hauptsächlich Künstler, Musiker und Schriftsteller, wie Marcel Duchamp, Max Ernst, Eugène Ionesco, Joan Miró, Groucho, Harpo und Chico Marx, Jean Baudrillard, Dario Fo, Umberto Eco, Man Ray und Harald Szeemann.
[Wikipedia: ’Pataphysik]
  
(5) Die Sendung wurde ursprünglich am 04.11.2007 im Schweizer Fernsehen ausgestrahlt.
[SRF: Sternstunde Philosophie: Klaus Ferentschik: 'Pataphysik – Wissenschaft der imaginären Lösungen - Ein Paralleluniversum der Phantasie und der individuellen Abweichung]
Diese Sendung brachte auch 3sat, daraus hier ein Ausschnitt, gefunden auf Youtube.
  
(6) Im Collège de 'Pataphysique fungiert er als Regent mit einem Lehrstuhl für démonologie spéciale, verfasste ein ausführliches Buch über 'Pataphysik, die Wissenschaft von den imaginären Lösungen und zum 50jährigen Jubiläum der Weltmaschine des Franz Gsellmann den dazugehörigen Roman - Der Weltmaschinenroman (2008). Seit 2001 lebt Klaus Ferentschik in Berlin.
[Wikipedia: Klaus Ferentschik]
  
(7) Das Collège de ’Pataphysique, gegründet 1948 in Paris, ist eine Vereinigung zur Förderung von Studien der ’Pataphysik, einem vom französischen Schriftsteller Alfred Jarry (1873–1907) erdachten absurdistischen Wissenschaftskonzept. Das Collège war in einer ersten Phase besonders in den 1960er Jahren in Kunst und Literatur einflussreich.
[Wikipedia: Collège de ’Pataphysique]
  
(8) Eva Horn: Zukunft als Katastrophe. S. Fischer Verlag, 2014, S. 13.
[Amazon: Zukunft als Katastrophe von Eva Horn]
  
(9) ebenda S. 113




Dieser Text ist im Buch Im Spannungsfeld |1 enthalten.

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1 Kommentar :

  1. Danke für die Anregung! Es ist Jahrzehnte her, dass in unserer (Wessi-Clique) König Ubu oder Duchamp ein Thema waren. Zeit, mal wieder nachzulesen.

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