10. Juli 2014

Der Islam als Kriegsreligion

Auschnitt aus «Masse und Macht» von Elias Canetti

Auf vier verschiedene Weisen versammeln sich die gläubigen Mohammedaner.
1. Sie versammeln sich mehrmals täglich zum Gebet, zu dem sie von einer Stimme hoch oben gerufen werden. - Hier geht es um kleine rhythmische Gruppen, die man als Gebetsmeuten bezeichnen kann. Jede Bewegung ist genau vorgeschrieben und von einer Richtung, der auf Mekka, beherrscht. Einmal in der Woche, beim Freitragsgebet, wachsen diese Meuten zu Massen an.
2. Sie versammeln sich zum heiligen Krieg gegen die Ungläubigen.
3. Sie versammeln sich in Mekka, bei der großen Pilgerfahrt.
4. Sie versammeln sich beim Jüngsten Gericht.

Im Islam, wie in allen Religionen, sind unsichtbare Massen von der größten Bedeutung. Aber schärfer ausgeprägt als in den anderen Weltreligionen sind es hier unsichtbare Doppelmassen, die einander entgegenstehen.

Sobald die Posaune des Jüngsten Gerichts ertönt, stehen die Toten aus ihren Gräbern alle auf und begeben sich eiligst, wie auf ein militärisches Kommando, aufs Feld des Gerichts. Da treten sie nun vor Gott an, in zwei mächtigen Haufen, die voneinander abgetrennt werden, auf der einen Seite die Gläubigen, die Ungläubigen auf der anderen, und jeder einzelne wird von Gott gerichtet.

Alle Generationen der Menschen kommen so zusammen, und jedem erscheint es, als sei er erst am Tage zuvor ins Grab gelegt worden. Von den unermeßlichen Zeiträumen, die er im Grabe gelegen haben mag, hat er keine Vorstellung. Sein Tod war traum- und erinnerungslos. Aber der Laut der Posaune wird von jedem vernommen. »An jenem Tage werden die Menschen in Scharen hervorkommen«. Immer wieder ist im Koran von den Scharen jenes großen Augenblicks die Rede. Es ist die umfassende Massenvorstellung, deren ein gläubiger Mohammedaner fähig ist. Eine größere Zahl von Menschenwesen als die aller, die je gelebt, auf einen Fleck zusammengedrängt, kann sich niemand denken. Es ist die einzige Masse, die nicht mehr wächst, und sie hat die größte Dichte, denn jeder einzelne von ihnen, an derselben Stelle, tritt vor das Angesicht des Richter.

Aber bei aller Größe und Dichte bleibt sie von Anfang bis Ende immer zwei geteilt. Jeder weiß genau, was ihn erwartet: Bei den einen ist Hoffnung, Schrecken bei den anderen. »An jenem Tage wird es staubbedeckte Gesichter geben, von Dunkelheit bedeckte, das sind die Ungläubigen, die Frevler.« Da es sich um ein absolut gerechtes Urteil handelt - jede Tat ist verzeichnet und schriftlich nachzuweisen -, kann niemand der Hälfte, der er von Rechts wegen zugehört, entkommen.

Die Zweiteilung der Masse im Islam ist eine unbedingte, sie besteht zwischen dem Haufen der Gläubigen und jenem der Ungläubigen. Ihr Schicksal, das für immer getrennt bleiben wird, ist es, einander zu bekämpfen. Der Glaubenskrieg gilt als heilige Pflicht, und so wird schon während dieses Lebens, in jeder Schlacht, die Doppelmasse des Jüngsten Gerichts - wenn auch weniger umfassend - vorgebildet.

Ein ganz anderes Bild steht dem Mohammedaner als nicht weniger heilige Pflicht vor Augen: die Pilgerfahrt nach Mekka. Hier handelt es sich um eine langsame Masse, die sich durch allmählichen Zufluß aus aller Herren Länder bildet. Sie kann sich, je nach der Entfernung von Mekka, in der der Gläubige wohnt, über Wochen, Monate oder selbst Jahre erstrecken. Die Pflicht, die Fahrt zumindest einmal im Laufe eines Lebens zu vollführen, färbt auf das ganze irdische Dasein eines Menschen ab. Wer nicht auf dieser Pilgerfahrt war, hat nicht wirklich gelebt. Ihre Erfahrung faßt sozusagen das ganze Gebiet, das der Glaube überzogen hat, zusammen und sammelt ihn an einen Ort, von dem er seinen Ausgang nahm. Diese Masse der Pilger ist friedlich. Sie ist einzig und allein der Erreichung ihres Zieles zugewandt. Es ist nicht ihre Aufgabe, Ungläubige zu unterwerfen, sie muß nur an ihren bezeichneten Ort gelangen und dort gewesen sein.

Es gilt als ein besonderes Wunder, daß eine Stadt von der Größe Mekkas diese unzähligen Scharen der Pilger fassen kann. Der spanische Pilger Ibn Jubayr, der sich gegen Ende des 12. Jahrhunderts in Mekka aufhielt und eine ausführliche Beschreibung davon hinterlassen hat, meint, daß auch die größte Stadt der Welt nicht Platz für so viele Menschen habe. Aber Mekka sei mit einer besonderen Ausdehnbarkeit für Massen begnadet; man müsse es mit einer Gebärmutter vergleichen, die je nach Gestalt des Embryos, das sie enthalte, kleiner oder größer werde.

Der wichtigste Augenblick der Pilgerfahrt ist der Tag auf der Ebene von Arafat. 700 000 Menschen sollen hier beisammenstehen. Was an dieser Zahl fehlt, wird durch Engel aufgefüllt, die sich unsichtbar unter die Menschen stellen.

Doch wenn die Tage des Friedens vorüber sind, tritt der Glaubbenskrieg wieder in sein Recht. »Mohammed« satt einer der besten Kenner des Islams, »ist der Prophet des Kampfes und des Krieges . . . Was er zunächst in seinem arabischen Umkreise getan, das hinterläßt er als Testament für die Zukunft seiner Gemeinde: Bekämpfung der Ungläubigen, die Ausbreitung nicht so sehr des Glaubens als seiner Machtsphäre, die die Machtsphäre Allahs ist. Es ist den Kämpfern des Islam nicht so sehr um die Bekehrung als um Unterwerfung der Ungläubigen zu tun.»

Der Koran, das von Gott inspirierte Buch des Propheten, läßt keinen Zweifel darüber. »Wenn die heiligen Monate vorüber sind, tötet die Ungläubigen, wo ihr sie findet; ergreift sie, bedrängt sie und setzt euch in jeden Hinterhalt gegen sie.«

(Masse und Macht, von Elias Canetti. Fischer Taschenbuch Verlag, ISBN 978-3-596-26544-2, Kapitel: Meute und Religion, Seiten 166-168)


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