12. Dezember 2012

Europa, der Friedensnobelpreis und Lessings Bogen

Nun haben wir ihn also, den Friedensnobelpreis. Doch wer sind wir, gibt es überhaupt ein europäisches Wir? Wer wurde da geehrt? Bei früheren Vergaben an Organisationen war dies klar erkennbar: Gruppen von Personen mit klar umrissenen Zielen. Das Rote Kreuz, das IPCC, die IAEO, die Quäcker oder UNICEF. Jeder der diesen Organisationen nahe stand, oder steht, durfte sich stolz fühlen für die Wertschätzung und Bestätigung seiner Arbeit, seinen Überzeugungen, Zielen und vor allem, für das Geleistete.

Die Europäische Union bekam ihren Preis „für über sechs Jahrzehnte, die zur Entwicklung von Frieden und Versöhnung, Demokratie und Menschenrechten in Europa beitrugen.“ Sechs Jahrzehnte, damit ist der Zeitrahmen ab Beginn der Montanunion (Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl) genannt, die freilich auch nicht aus dem „Nichts“ entstanden ist, sondern auf dem Schuman-Plan aufbaute, der wiederum sehr klar französische Interessen vertrat. Überhaupt sind nationalstaatliche Interessen, nicht nur Frankreichs, von Anfang an der dominierende Faktor der gesamten europäischen Einigung gewesen. Ein politisches Europa entstand nicht, eher ein Bündnis mit mehr oder minder großen Schnittmengen, deren hauptsächlicher Inhalt Wirtschaftsinteressen waren.

Dies hat sich bis heute nicht geändert, eine europäische Identität ist nicht entstanden, sämtliche Verträge ähneln denen zwischen Geschäftspartnern, die sich daraus ihren jeweiligen ganz persönlichen Vorteil versprechen. Und so paradox es sich anhört, dieses ständige Feilschen aus Eigennutz hat tatsächlich dazu geführt, dass sich die europäischen Nationen näher gekommen sind. Wirtschaft und Handel führten zum Abbau von Spannungen und zum besseren gegenseitigen Verständnis. So sehr man auch auch auf seinen jeweiligen eigenen Vorteil bedacht ist, so wenig ist es den Vertragspartnern daran gelegen, den jeweils anderen zu schwächen. Der soll ebenfalls profitieren, um in Zukunft für weitere Geschäfte zur Verfügung zu stehen.

Es sind die praktischen Dinge die die Menschen zusammenführen und ein friedliches Miteinander befördern. Der Abbau von Zollschranken, einheitliche Maße und freier Personen- und Warenverkehr übten schon früher einen gewaltigen Schub auf die Verbesserung der Lebensverhältnisse aus. Und so gesehen, ist der Friedensnobelpreis für Europäische Union vollkommen gerechtfertigt, gleichzeitig allerdings auch eine große Gefahr, weil er Tendenzen innerhalb der Union bestärkt, die auf eine eigene europäische Identität hinarbeiten. Hier liegt die große Gefahr für ein Scheitern dieses bisherigen Erfolges. Schon die Einführung des Euro muss heute mehr als Gefahr denn als Chance begriffen werden, da auch hier davon ausgegangen wurde, so etwas wie eine europäische Identität zu schaffen. Oder man nahm an, diese existiere bereits und müsse sich zwangsläufig in einer eigenen gemeinsamen Währung darstellen.

Eine Identität, so wie hier besprochen, entsteht aber aus der Geschichte; aus Geschichtsbewusstsein und einer Erinnerungskultur. Hier wird nun krampfhaft daran gearbeitet, ein solches europäisches Geschichtsbewusstsein zu schaffen, doch das klappt nicht, weil es dieses nicht gibt. Der Hickhack um die Installierung des Haus der Europäischen Geschichte ist nur ein Beispiel dafür. Die Gefahr bei dem Versuch eine europäische Identität zu schaffen liegt darin, dass neue Konfliktfelder in ein bislang erfolgreiches Projekt hinein getragen werden, was dann wieder die Stabilität desselben gefährdet. Hier sei allen Akteuren angeraten sich Lessings Fabel vom Bogen anzuschauen:
Ein Mann hatte einen trefflichen Bogen von Ebenholz, mit dem er sehr weit und sicher schoss, und den er ungemein wert hielt. Einst aber, als er ihn aufmerksam betrachtete, sprach er: »Ein wenig zu plump bist du doch! Alle deine Zierde ist die Glätte. Schade!« - »Doch dem ist abzuhelfen!« fiel ihm ein. »Ich will hingehen und den besten Künstler Bilder in den Bogen schnitzen lassen.« - Er ging hin; und der Künstler schnitzte eine ganze Jagd auf den Bogen; und was hätte sich besser auf einen Bogen geschickt als eine Jagd?

Der Mann war voller Freude. »Du verdienest diese Zierraten, mein lieber Bogen!« - Indem will er ihn versuchen; er spannt, und der Bogen - zerbricht.
Die Europäische Union braucht weder eine europäische Identität, noch eine europäisches Geschichtsbewusstsein, noch eine große europäische Idee. Alles das belastet nur das sehr erfolgreiche Projekt des partnerschaftlichen Miteinander zum eigenen und gegenseitigem Nutzen. Alles weitere ist nur unnötiger Zierrat.

Links zum Artikel
Wikipedia: Liste der Friedensnobelpreisträger
Wikipedia: Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl
Wikipedia: Schuman-Plan
Wikipedia: Haus der Europäischen Geschichte
Wikipedia: Römische Verträge
H-Soz-u-Kult: Arbeit am europäischen Gedächtnis: ....
udoklinger.de: Ausgewählte Fabeln von G. E. Lessing
hypotheses.org: Umkämpfte Erinnerung – wie mit Geschichte Politik gemacht wird


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